6.2 Stetigkeit von Funktionen mehrerer Variablen#
Im vorherigen Kapitel haben wir Funktionen mit mehreren unabhängigen Variablen kennengelernt und deren grafische Darstellung betrachtet. Für eine tiefergehende mathematische Analyse solcher Funktionen ist das Konzept der Stetigkeit fundamental. Die Stetigkeit ist eine wichtige Eigenschaft, die uns Auskunft darüber gibt, ob eine Funktion an bestimmten Stellen “Sprünge” aufweist oder sich “glatt” verhält.
Im Maschinenbau ist die Stetigkeit von Funktionen mehrerer Variablen von großer praktischer Bedeutung. Bei der Modellierung von physikalischen Prozessen, wie etwa der Wärmeleitung in Bauteilen oder der Spannungsverteilung in belasteten Strukturen, erwarten wir in der Regel stetige Funktionen. Unstetigkeiten können auf physikalische Phasenübergänge, Materialübergänge oder mathematische Idealisierungen hindeuten.
Lernziele#
Lernziele
Sie können Stetigkeit für Funktionen mehrerer Variablen mathematisch definieren.
Sie können die von Funktionen mehrerer Variablen anschaulich interpretieren.
Wiederholung: Stetigkeit von Funktionen einer Variablen#
Bevor wir die Stetigkeit für Funktionen mehrerer Variablen betrachten, erinnern wir uns kurz an die Definition für Funktionen einer Variablen. Eine Funktion \(f: \mathbb{R} \rightarrow \mathbb{R}\) ist stetig an der Stelle \(x_0\), wenn gilt:
Das bedeutet anschaulich:
Der Grenzwert \(\lim_{x \to x_0} f(x)\) existiert.
Der Funktionswert \(f(x_0)\) existiert.
Beide Werte stimmen überein.
Eine alternative, oft anschaulichere Formulierung ist die \(\varepsilon\)-\(\delta\)-Definition:
Eine Funktion \(f: \mathbb{R} \rightarrow \mathbb{R}\) ist stetig an der Stelle \(x\), wenn für jedes \(\varepsilon > 0\) ein \(\delta > 0\) existiert, sodass für alle \(x\) mit \(|x - x_0| < \delta\) gilt: \(|f(x) - f(x_0)| < \varepsilon\).
Intuitiv bedeutet dies: Wenn wir Punkte betrachten, die nahe genug an \(x_0\) liegen (Abstand kleiner als \(\delta\)), dann liegen die zugehörigen Funktionswerte beliebig nahe an \(f(x_0)\) (Abstand kleiner als \(\varepsilon\)).
Stetigkeit von Funktionen mehrerer Variablen#
Bei Funktionen mehrerer Variablen müssen wir das Konzept der Stetigkeit erweitern. Wir fassen die unabhängigen Variablen \((x_1, x_2, \ldots, x_n)\) in Vektorschreibweise zusammen als
Für eine Funktion \(f: \mathbb{R}^n \rightarrow \mathbb{R}\) mit den unabhängigen Variablen \(\vec{x} = (x_1, x_2, \ldots, x_n)\) definieren wir Stetigkeit wie folgt.
Definition: Stetigkeit einer Funktion mehrerer Variablen
Eine Funktion \(f: \mathbb{R}^n \rightarrow \mathbb{R}\) ist stetig an der Stelle \(\vec{x_0} = (x_{01}, x_{02}, \ldots, x_{0n})\), wenn gilt:
In der \(\varepsilon\)-\(\delta\)-Form: Für jedes \(\varepsilon > 0\) existiert ein \(\delta > 0\), sodass für alle \(\vec{x}\) mit \(\|\vec{x} - \vec{x_0}\| < \delta\) gilt:
Dabei bezeichnet \(\|\vec{x} - \vec{x_0}\|\) den euklidischen Abstand im \(\mathbb{R}^n\).
Der wichtigste Unterschied zur Stetigkeit von Funktionen einer Variablen besteht darin, dass wir jetzt den Abstand von Punkten im mehrdimensionalen Raum betrachten. Die euklidische Norm \(\|\vec{x} - \vec{x_0}\|\) gibt den Abstand zwischen den Punkten \(\vec{x}\) und \(\vec{x_0}\) im \(\mathbb{R}^n\) an und wird definiert als:
Das folgende Video erklärt die Stetigkeit von mehrdimensionalen Funktionen.
Video “Stetigkeit” von Mathematische Methoden
Anschauliche Interpretation der Stetigkeit#
Bei Funktionen von zwei Variablen \(f(x,y)\) können wir die Stetigkeit anschaulich interpretieren:
Eine Funktion \(f: \mathbb{R}^2 \rightarrow \mathbb{R}\) ist stetig an der Stelle \((x_0, y_0)\), wenn sich der Funktionswert \(f(x,y)\) beliebig wenig von \(f(x_0, y_0)\) unterscheidet, sobald sich der Punkt \((x,y)\) in einer hinreichend kleinen Umgebung des Punktes \((x_0, y_0)\) befindet.
In der grafischen Darstellung als Fläche im dreidimensionalen Raum bedeutet dies, dass die Fläche keine “Löcher” oder “Sprünge” aufweist.
Betrachten wir die Funktion
Diese Funktion ist an der Stelle \((0,0)\) nicht stetig. Um dies zu zeigen, betrachten wir Annäherungen an den Ursprung entlang verschiedener Wege:
Entlang der \(x\)-Achse (\(y = 0\)): \(\lim_{x \to 0} f(x,0) = \lim_{x \to 0} \frac{x \cdot 0}{x^2 + 0^2} = 0\)
Entlang der \(y\)-Achse (\(x = 0\)): \(\lim_{y \to 0} f(0,y) = \lim_{y \to 0} \frac{0 \cdot y}{0^2 + y^2} = 0\)
Entlang der Geraden \(y = x\): \(\lim_{x \to 0} f(x,x) = \lim_{x \to 0} \frac{x \cdot x}{x^2 + x^2} = \lim_{x \to 0} \frac{x^2}{2x^2} = \frac{1}{2}\)
Da die Grenzwerte je nach Annäherungsweg unterschiedlich sind, existiert kein eindeutiger Grenzwert für \((x,y) \to (0,0)\). Daher ist die Funktion an der Stelle \((0,0)\) nicht stetig.
Bei Funktionen mehrerer Variablen gilt wie bei Funktionen einer Variablen: Jede differenzierbare Funktion ist auch stetig. Umgekehrt ist jedoch eine stetige Funktion nicht notwendigerweise differenzierbar.
Im nächsten Kapitel werden wir uns mit der Differenzierbarkeit von Funktionen mehrerer Variablen befassen. Die Stetigkeit ist hierfür eine notwendige Voraussetzung.
Zusammenfassung und Ausblick#
In diesem Kapitel haben wir das Konzept der Stetigkeit für Funktionen mehrerer Variablen eingeführt. Eine Funktion ist stetig an einer Stelle, wenn der Grenzwert der Funktion für alle Annäherungswege an diese Stelle existiert und mit dem Funktionswert an dieser Stelle übereinstimmt. Im nächsten Kapitel werden wir auf dem Konzept der Stetigkeit aufbauen und die Differenzierbarkeit von Funktionen mehrerer Variablen untersuchen, die für die Berechnung von Änderungsraten und die Optimierung technischer Systeme von zentraler Bedeutung ist.